Bei Medizinprodukten auf die EU warten hilft der Schweiz wenig

Europäische Regulierungsprobleme führen bei Medizinprodukten zu Verknappungen und Qualitätseinbussen. Nebst den EU-Mitgliedstaaten ist auch die Schweiz betroffen. Diese kann ihre nationale Versorgung demzufolge nur sichern, wenn sie Versorgungslücken mit aussereuropäischen Produkten schliessen kann – mindestens, bis die EU ihre Probleme gelöst hat. Dabei sollen Medizinprodukte zur Anwendung kommen, die in Ländern mit sicheren Regulierungssystemen bereits eingesetzt werden. Es sind dies Länder wie Kanada, Japan, USA oder Australien. Soll die Schweizer Gesundheitsversorgung schadlos bleiben, muss die Akzeptanz dieser Produkte von betroffenen Akteuren jetzt eingefordert werden.

Ausgangslage
Die Schweiz hat nicht zuletzt dank ihrer Kreativität mittlerweile international einen beachtenswerten Ruf erlangt. Gemäss dem Global Innovation Index 2020[1] ist sie das weltweit innovativste Land mit prosperierenden Wirtschaftszweigen und weit über die Landesgrenzen hinaus beachteten Dienstleistungen. Unglücklicherweise hat nun gerade die bisher äusserst erfolgreiche und wichtige Medtech-Industrie erhebliche Schwierigkeiten. Grund dafür ist die Absicht der Schweiz, bei den Medizinprodukten mit einer zur EU gleichwertigen Regulierung, weiterhin am EU-Binnenmarkt teilnehmen zu können. Leidtragende sind Industrie und Gesundheitsversorgung.

Angefangen hat alles mit den ersten Entwürfen der mittlerweile in Kraft gesetzten neuen europäischen Medizinprodukteverordnungen MDR[2] und IVDR[3]. Schon 2013 war klar, die neuen Verordnungen werden die Arbeit aller Wirtschaftsakteure, der Behörden aber auch der anwendenden Gesundheitsinstitutionen grundlegend verändern. Nebst diversen technischen Neuerungen hat die Europäische Kommission auch Koordinationsanforderungen präziser festgelegt. Erstmals schreiben die neuen Verordnungen den Behörden der Mitgliedstaaten vor, wie sie zusammenzuarbeiten haben. Sollen künftig nebst den Mitgliedstaaten auch die Vertragsstaaten der EU in die zu koordinierenden Marktüberwachungen, Vigilancebearbeitungen und klinischen Versuche eingebunden sein, wird dies nur mit einer Aktualisierung der entsprechenden Staatsverträge möglich sein. Für die Schweiz bedeutet dies, das MRA[4] muss aktualisiert werden.

MRA, Abkommen über gegenseitige Anerkennungen zwischen der Schweiz und der EU:
Ob das MRA allerdings aktualisierbar ist, dies ist weniger als 200 Tage vor dem 26. Mai 2021, dem Geltungsbeginn der MDR, noch komplett offen. Denn spätestens seit Dezember 2018 ist das MRA Teil der Verhandlungen um die künftige Beziehung Schweiz-EU. Damals machte die Europäische Kommission deutlich, neue Verträge und Aktualisierungen bestehender Verträge könne es nur geben, wenn sich die Schweiz aktiv für eine Ratifizierung und Inkraftsetzung des gemeinsam ausgehandelten institutionellen Abkommen (InstA)[5] einsetze. Mittlerweile ist Dezember 2020 und Anzeichen einer Lösung sind noch keine vorhanden.

Derzeit lassen sich die Auswirkungen eines fehlenden MRA auf die Schweiz höchstens abschätzen. Immerhin lässt sich vom Brexit her vermuten, dass bei anhaltender InstA-Blockade auch die zuständigen Schweizer Behörden aus dem Netzwerk der EU-Behörden ausgeschlossen werden. Dies wird qualitative Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung haben. Auch wenn Schweizer Hersteller von Medizinprodukten weiterhin mit europäischen Prüfstellen zusammenarbeiten können, wird die Arbeit dieser Stellen nicht mehr durch Schweizer Behörden zu beaufsichtigen sein. Schweizer Gesundheitsakteure werden demnach Medizinprodukte einsetzen, die von privaten europäischen Organisationen mit unbekanntem und nicht beeinflussbarem Leistungsprofil freigegeben wurden. Ob sich damit der gute Ruf im Gesundheitswesen verteidigen lässt, muss ernsthaft hinterfragt werden.

Schweizer Wirtschaftsakteure haben es einfacher. Wenn sie sich rechtzeitig mit der früh diskutierten Vertragsunsicherheit auseinandergesetzt und ihre Produkte für eine Phase ohne MRA angepasst haben, sollten ihnen ab Geltungsbeginn der neuen EU-Verordnungen keine zusätzlichen Exportschwierigkeiten entstehen. Eine erste Empfehlung für Schweizer Hersteller publizierte der Schweizer Branchenverband, Swiss Medtech, bereits am 25. April 2019[6].

Regulierungsprobleme in Europa:
Die Schweiz tut aber gut daran, bei den Medizinprodukten nicht bloss auf überarbeitete EU-Verträge zu warten. Auch mit einem aktualisierten MRA bleibt ihre Medizinprodukteversorgung durch die Übernahme der neuen europäischen Verordnungen über Jahre hinaus ungenügend und unsicher. Denn die teilweise äusserst komplexen neuen Anforderungen lassen sich nicht wie geplant umsetzen. Per Geltungsbeginn werden zudem wesentliche Neuerungen nicht oder höchstens reduziert zu nutzen sein, unter anderem die EU-Datenbank, gemeinsame Spezifikationen und Durchführungsrechtsakten. Da im Gesundheitswesen der Bedarf an Medizinprodukten jedoch kaum mit einer reduziert anwendbaren Regulierung einhergeht, müssen Produktverknappungen und Qualitätseinbussen künftig in Kauf genommen werden.

Die grössten Probleme hat Europa mit ihrer Schwachstelle bei der Prüfung und Überwachung von neuen Produkten. Es wird noch über Jahre hinweg zu wenig Prüfstellen, also Benannte Stellen, geben. Aktuell sind unter der alten Regulierung 54 Stellen aktiv. Für die neue Regulierung, die bei den Benannten Stellen wesentlich höhere Prüfaufwände verursacht, haben sich lediglich 48 Stellen beworben. Davon konnten sich bis Ende November 2020 erst 17 Stellen qualifizieren. Die zu prüfenden Produkte werden die Prüfkapazität in Europa um ein Vielfaches übertreffen. Erschwerend kommt bei Hochrisikoprodukten hinzu, dass die am Prüfprozess zusätzlich zu beteiligenden Expert Panels noch alle fehlen.

Eine ungebrochen hohe – durch die Pandemie teilweise sogar überhöhte – Nachfrage an Produkten und unzureichende Prüfkapazitäten führen dazu, dass nationale Sondergenehmigungsverfahren anzuwenden sind. Diese Verfahren müssen im Interesse der Öffentlichkeit sowie betroffener Patientinnen und Patienten sein und werden von den national zuständigen Behörden durchgeführt. Solche Sondergenehmigungen erfordern allerdings spezifische Produktkenntnisse und zusätzliche Ressourcen. Fehlen diese, kann sich das Chaos 2020 bei der Beschaffung von massenhaft untauglichen und gefälschten Gesichtsmasken wiederholen. Masken lassen sich auswechseln. Was aber passiert, wenn über solche Verfahren untaugliche Implantate in Verkehr kommen? Die investigativen Recherchen zu «Implant Files» vor zwei Jahren sollten uns dazu noch warnend in Erinnerung sein.

Was aber soll die Schweiz tun, ausser warten? Als EU-Nichtmitglied muss sie jetzt ihre nationale Gesundheitsversorgung mit eigenen Massnahmen sicherstellen. Das Gute daran, es ist noch nicht zu spät. Die Schweizer Ausführungsbestimmungen auf Stufe der Verordnungen sollen erst per 26. Mai 2021 in Kraft gesetzt werden. Überdies sind die bereits verabschiedeten Entwürfe ohne aktualisiertes MRA nicht widerspruchsfrei und müssen vermutlich ohnehin angepasst werden. Das Schlechte daran, versorgungssichernde Anpassungen kommen nicht von selbst. Industrie und Gesundheitsverantwortliche müssen dies jetzt einfordern. Verbände der Medtechbranche, Ärzteschaft und Spitäler sind gefordert. Tun sie nichts, werden sie sich mit erheblichen Mankos arrangieren müssen.

Massnahmen:
Wenn sich die Schweiz aufgrund von regulatorischen Schwierigkeiten der EU eigenständig für eine nachhaltige Medizinprodukteversorgung einsetzen muss, sollen notwendige Massnahmen höchstens ergänzend zu den bereits europakompatiblen Regulierungen eingefügt werden. Sie sollen sich lediglich gegen eine durch Europa verursachte Produktverknappung richten und strikt auf das Territorium der Schweiz eingrenzen lassen. Es darf keine Vermischung mit Handelsfragen des EU-(Binnen-)Marktes geben.

Sollen Handelsfragen mit der EU ausgeklammert bleiben, wäre demnach eine rein schweizerische Verlängerung von heute verwendeten, also altregulierten, europäischen Produkten wenig zielführend. Die EU würde in solch einer Massnahme eine missbräuchliche Verwendung von europäisch gekennzeichneten, nichtkonformen Produkten sehen. Deshalb würde sie zum Schutz ihres Binnenmarktes alles tun, der Schweiz solch einen Handel mit nicht auszuschliessenden EU-Reimporten zu untersagen.

Möchte die Schweiz altregulierte Produkte einseitig länger verwenden, kann sie dazu prinzipiell auf das Verfahren der MD-Kennzeichnung zurückgreifen. Dieses Verfahren ermöglicht seit 1996 einen territorial auf die Schweiz eingegrenzten Medizinproduktehandel. Aufgrund der wirtschaftlich interessanteren Möglichkeit einer Teilnahme am EU-Binnenmarkt, wurde dieses MD-Verfahren jedoch bisher nur selten benutzt. Dementsprechend fehlen der Schweiz weitgehend die notwendigen Prüfstellen. Lediglich eine einzige Stelle ist derzeit teilweise qualifiziert. Dieses MD-Verfahren kann also keine Option für eine verlängerte Verwendung altregulierter Produkte sein. Allerdings könnte mit einer gezielten Aufstockung der nationalen Prüfkapazität langfristig die Autonomie der Schweiz im sensiblen Bereich der Gesundheitsversorgung erhöht werden.

In der Schweiz liessen sich fehlende europäische Produkte immerhin mit aussereuropäischen Medizinprodukten ergänzen, also mit Produkten, die bereits in Ländern mit ebenfalls sicheren Regulierungssystemen akzeptiert sind. Es sind dies Länder wie Kanada, Japan, USA und Australien. Da all diese Produkte ihre Konformität mit eigenen und unverwechselbaren Kennzeichnungen nachweisen, ist solch eine Massnahme auch für die EU problemlos. Sowohl der Handel wie auch die Anwendung dieser zusätzlichen Produkte lassen sich eindeutig auf die Schweiz eingrenzen. Australien, ebenfalls Vertragspartner der EU, hat eine solche Lösung zur Kompensation fehlender europäischer Produkte bereits festgelegt.

Schlussfolgerung:

Eine Schweiz, die bei Medizinprodukten lediglich auf eine unsichere Nachführung von EU-Verträgen wartet, die schadet primär ihrer Gesundheitsversorgung. Konkrete Massnahmen gegen Produktverknappungen und Qualitätseinbussen sind jetzt gefordert. Dazu soll die Schweiz fehlende europäische Produkte mit sicheren aussereuropäischen Medizinprodukten ergänzen können. Nur so lassen sich die europäisch verursachten Regulierungsprobleme, zeitlich und territorial begrenzbar, ohne Qualitätsbeeinträchtigung beim Gesundheitswesen auffangen.

Akteure im Schweizer Gesundheitswesen, insbesondere aus Industrie und Anwendung, müssen diese Kompensationsmassnahmen nun dringend einfordern.

Autor: Peter Studer (Senior Advisor)

 

[1] Global innovation index 2020, https://www.globalinnovationindex.org/Home (besucht im November 2020)

[2] EU-Medizinprodukte-Verordnung vom 5. April 2017, Verordnung (EU) 2017/745

[3] EU-In-vitro-Diagnostika-Verordnung vom 5. April 2017, Verordnung (EU) 2017/746

[4] Mutual Recognition Agreement, Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen, vom 21 Juni 1999, SR 0.946.526.81

[5] Institutionelles Abkommen, https://www.eda.admin.ch/dea/de/home/verhandlungen-offene-themen/verhandlungen/institutionelles-abkommen.html (besucht im November 2020)

[6] Empfehlung an alle Schweizer Hersteller von Medizinprodukten, 25. April 2019, https://www.swiss-medtech.ch/news/mdr-portal (besucht im November 2020)

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